23.05.2017
Chancen der Digitalisierung für Menschen mit Behinderungen bei der Teilhabe am Arbeitsleben nutzen

53. Treffen der Beauftragten des Bundes und der Länder in Magdeburg
Die Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange der Menschen mit Behinderung kamen in der vergangenen Woche zu einem Arbeitstreffen in Magdeburg zusammen.
Schwerpunkt der Beratungen, an denen der Bürgerbeauftragter Matthias Crone für das Land Mecklenburg-Vorpommern teilnahm, war die Auswirkung der Digitalisierung auf die Arbeits- und Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen. Die digitale Entwicklung schreitet immer weiter voran. Dies spüre man in alle Bereiche unserer Gesellschaft, auch in der Arbeitswelt. Crone: „Wir haben übereinstimmend erklärt: Es ist unsere Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass alle Menschen von der digitalen Entwicklung profitieren - auch oder gerade Menschen mit Behinderungen. Diese bietet Chancen, Unterstützung und Assistenz für Menschen mit Behinderungen bei der Teilhabe am Arbeitsleben, nutzen wir sie!“
Bei dem Arbeitstreffen wurden auch die Risiken dieser Entwicklung intensiv betrachtet. Hierzu entwickelte das Gremium die sogenannten Magdeburger Thesen zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen im Zeitalter „4.0“.
Die Beauftragten treffen sich zweimal jährlich und greifen wichtige Themen auf. Der Bürgerbeauftragte des Landes Mecklenburg-Vorpommern nimmt die Belange der Menschen im Land als besonderen gesetzlichen Auftrag nach dem Petitions- und Bürgerbeauftragtengesetz wahr und ist ständiges Mitglied der Konferenz der Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen.
Magdeburger Thesen der Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen im Zeitalter „4.0"
Einleitung zu den Magdeburger Thesen
„Industrie 4.0" beschreibt gemeinhin das digitale Zeitalter der Wirtschaft. Arbeiten 4.0 konzentriert sich bislang stark auf den Wandel der Arbeitswelt. Mit der Chiffre „4.0" verbinden sich im Allgemeinen Zukunftsszenarien eines Strukturwandels, der bereits jetzt Auswirkungen für alle Menschen mit und ohne Behinderungen weit über den Bereich Arbeit hinaus hat.
Derzeit wird in Fachkreisen und Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen gerade erst damit begonnen zu untersuchen, welche Chancen diese Entwicklung für Menschen mit Behinderungen hat, etwa in der Medizin, der Pflege, der Mobilität, bei der selbstbestimmten Lebensführung, aber auch bei der Teilhabe am Arbeitsleben. Andererseits werden aber auch erhebliche Risiken gesehen, etwa in Form sozialer Exklusionsmechanismen sowie durch die Schaffung neuer Barrieren, die durch die fortschreitende Digitalisierung im Zeitalter „4.0" weiter befördert werden oder welche neuen Ausgrenzungsursachen und —wirkungen im Vergleich zum Status Quo hinzutreten. Dabei kommt der Barrierefreiheit neuer Technologien sowie der frühestmöglichen und lebenslangen Bildung von Menschen mit Behinderungen besondere Bedeutung zu.
Die Gewährleistung des Rechts auf Arbeit und der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen nach der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vollziehen sich seit dem Inkrafttreten der Konvention im Jahr 2009 sehr schleppend. Menschen mit Behinderungen sind auf dem Arbeitsmarkt immer noch starken Benachteiligungen ausgesetzt. Das „Arbeiten 4.0" darf diesen Befund keinesfalls verstärken, sondern muss stattdessen zu Verbesserungen führen, etwa bei der Schaffung von Übergängen von geförderten Beschäftigungsmöglichkeiten — auch aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen - auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (auch durch Unterstützte Beschäftigung und in Inklusionsbetrieben).
Der im Herbst 2016 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgelegte Diskussionsentwurf eines Weißbuches „Arbeiten 4.0" erörtert die Chancen und Gefahren, die sich für Menschen mit Behinderungen aus der fortschreitenden Digitalisierung von Arbeit ergeben bisher nur am Rande.
Wir-die Behindertenbeauftragten aus Bund und Ländern- befürchten durch die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen weitere Nachteile am Arbeitsmarkt und den Aufbau neuer Barrieren.
Vor diesem Hintergrund möchten wir — die Behindertenbeauftragten aus Bund und Ländern — uns in Form der „Magdeburger Thesen" äußern und damit auf die Notwendigkeit hinweisen, die Diskussion über die Bedeutung der „Industrie 4.0" (oder „Arbeiten 4.0") für die Rechte von Menschen mit Behinderungen intensiv und auf der Basis guter Erkenntnisse zu führen und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu erweitern und zeitnah zu fundieren:
Thesen:
These 1: Forschung und Berichterstattung
Keiner hat Gewissheit darüber, welche Chancen wie Risiken für Menschen mit Behinderungen mit dem Wandel der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter dem Begriff Zeitalter „4.0" verbunden sind.
Bislang wird noch zu wenig untersucht, welche genauen Auswirkungen der digitale Wandel und der Umbruch in der Arbeitswelt für die Menschen mit Behinderungen haben werden. Niemand weiß genau, was die Digitalisierung der Arbeitswelt für Menschen mit Behinderungen bringen wird. Neue Arbeit wird geschaffen, andere wird wegfallen. Wir fordern Bund und Länder auf, gemeinsam mit der Wirtschaft und den Interessenvertretungen der Beschäftigten und von Menschen mit Behinderungen im Rahmen eines breit angelegten Forschungsvorhabens Daten zu erheben und Empfehlungen für Verwaltung und Wirtschaft zu erarbeiten, um Diskriminierung und Benachteiligung wegen einer Behinderung festzustellen, wirkungsvolle Maßnahmen zu deren Beseitigung zu ergreifen und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben insgesamt zu verbessern. Über die Ergebnisse ist in regelmäßigen Abständen zu berichten. Nach dem Grundsatz „nichts über uns ohne uns" sind die Menschen mit Behinderungen bei der Gestaltung der Digitalisierung zu beteiligen. Als Expertinnen und Experten in eigenen Angelegenheiten müssen Sie die Entwicklung und Prozesse mitbestimmen. Die Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände sind aufgefordert, aktiv mit zu wirken.
Ein entsprechender Handlungsauftrag besteht durch Artikel 4 und 31 der UN-BRK.
These 2: Strukturwandel und inklusiver Arbeitsmarkt
Die Digitalisierung der Arbeitswelt ist als Chance zu sehen, Menschen mit Behinderungen mit ihren wertvollen Fähigkeiten auf einem inklusiven Arbeitsmarkt in Arbeit und Beschäftigung zu bringen Der Strukturwandel „4.0" muss genutzt werden, um Rahmenbedingungen zu gestalten, in denen das Recht auf Arbeit von allen Menschen gleichberechtigt in Anspruch genommen werden kann.
Im Hinblick auf den Stand der Umsetzung der UN-BRK, insbesondere in Bezug auf Artikel 27 UN-BRK, sind besondere Anstrengungen und Vorkehrungen notwendig, damit die Benachteiligung (auch) von Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt sich nicht weiter verstärkt. Die Digitalisierung bietet Chancen, Unterstützung und Assistenz für Menschen mit Behinderungen bei der Teilhabe am Arbeitsleben neu zu gestalten. Technische Unterstützung bei der Orientierung, der Kommunikation, der Mobilität und der Motorik ergeben neue Möglichkeiten für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben. Deshalb muss die Digitalisierung für die Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes und für die Übergänge von und Alternativen zu der Werkstatt für behinderte Menschen genutzt werden. Unternehmen und Sozialpartner sind gefordert, diese Aufgabe der UN-Behindertenrechtskonvention aufzugreifen. Politisch sind die rechtlichen Rahmenbedingungen durch Anreize und Vorgaben zur regeln. Die Digitalisierung darf nicht zu einer Isolierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen führen. Teilhabe am Arbeitsleben ist immer auch soziale Teilhabe.
These 3: Digitale Barrierefreiheit
Die Digitalisierung darf keine neuen Barrieren schaffen. Bund und Länder sind verpflichtet, ihre digitalen Angebote zugänglich für Menschen mit Behinderungen zu gestalten.
Da im Zeitalter „4.0" Prozesse zwischen Mensch und Technik maßgeblich durch digitale Zugänge gestaltet werden, ist die Barrierefreiheit informationstechnischer Systeme im Sinne von Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention eine entscheidende Voraussetzung, um für Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe an der „digitalen Gesellschaft" zu gewährleisten. Wir fordern Bund und Länder auf, wegen ihrer Vorbildwirkung die Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (ABI. L 327/1) bis zum 23.09.2018 in nationales Recht umzusetzen und sie im Rahmen der Strategien zum E-Government und E-Justice zu berücksichtigen. Gleichzeitig sind entsprechende Regelungen für private Anbieter von Internet- und Intranet-Seiten und mobilen Anwendungen, die Dienste für die Allgemeinheit anbieten, zu schaffen, um eine Einheitlichkeit von Standards im gesellschaftlichen Leben herzustellen und damit die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen sicherzustellen. Hierzu besteht aus unserer Sicht eine Verpflichtung aufgrund von Artikel 9 Absatz 2, 13 und 21 UN-BRK.
These 4: Barrierefreie Produkte und Dienstleistungen
Bund und Länder sind verpflichtet, Regelungen zur Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen auf europäischer Ebene zum Abschluss zu bringen. Damit ist ein wesentlicher Fortschritt bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der Europäischen Union zu erwarten.
Um die Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen im digitalen Zeitalter sicherzustellen, fordern wir Bund und Länder auf, die Verhandlungen mit der EU-Kommission über die Verabschiedung des Vorschlages der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Barrierefreiheitsanforde-rungen für Produkte und Dienstleistungen (COM(2015) 615 final) aktiv und konstruktiv zu begleiten. Eine Verpflichtung hierfür sehen wir aufgrund des Artikels 9 der UN-BRK.
These 5: Inklusive Bildung
Die inklusive Bildung ist der Schlüssel für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in einer Gesellschaft des digitalen Wandels.
Wir fordern Bund und Länder auf, alles dafür zu tun, dass alle Menschen sofortigen barrierefreien und inklusiven Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten erhalten, um sich für die Entwicklungen und Anforderungen des Zeitalters „4.0" zu qualifizieren. Dies gilt nicht nur für die zeitlich befristete Vorschul-, Schul-, Aus-, Fort-, Weiter-, Hochschul- und Erwachsenenbildung, sondern umfasst den inklusiven Zugang zu Lebenslangem Lernen für Alle. Sollten entsprechende inklusive Bildungsangebote nicht vorhanden sein, sind sie sofort und dauerhaft zu schaffen. Bereits bestehende Programme wie z.B. Berufsbildung 4.0 des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sind auf ihre uneingeschränkten Möglichkeiten der Teilnahme von Menschen mit Behinderung zu überprüfen. Zudem ist sicherzustellen, dass der Bildungsbegriff nicht nur auf die reine Vermittlung von Wissen begrenzt bleibt, sondern die Bereitstellung von Ressourcen für umfassende Nachteilsausgleiche in allen Bildungsbereichen für Menschen mit Behinderungen einschließt. Nur so sehen wir den Anspruch des Artikels 24 UN-BRK verwirklicht und die Zukunft unserer Bürgerinnen und Bürger durch Chancengerechtigkeit gesichert.